Wie reagierst du auf den extremen Ausdruck von männlicher und weiblicher Energie? Deine Reaktion auf das übertriebene Spiel sexueller Polaritäten gibt dir einen Hinweis darauf, für welches Stadium einer Beziehung du bereit bist.
Stell dir vor, du entdeckst beim Waldspaziergang ein Video unter einem Baum. Du bist neugierig und bringst es nach Hause, um es dir anzusehen. Auf dem Bildschirm siehst du einen nackten Mann und ein Frau, die Sex haben, genau unter dem Baum, unter dem du das Video gefunden hast. Du hast ein komisches Gefühl dabei, dir das anzusehen. Die Frau gibt spitze hohe Töne von sich. Der Mann zieht an ihren Haaren, streckt ihren Hals nach hinten und bedeckt ihn mit Küssen und leckt ihn. Die Frau scheint sich zu wehren – oder windet sie sich etwa in Ekstase? Genau in diesem Augenblick kommt dein Kind ins Zimmer und du schaltest schnell den Fernseher aus und nimmst die Kassette wieder heraus.
Das was du gesehen hast, geht dir für den restlichen Tag durch den Kopf. Warst du Zeuge einer Vergewaltigung oder durftest du ein Paar in sexueller Raserei erleben? In dieser Nacht gehen dir immer wieder Szenen des Videos durch den Kopf. Ein Teil in dir möchte genauso leidenschaftlich Liebe machen. Ein anderer Teil fühlt sich bei diesem Gedanken unwohl und macht sich Gedanken darüber, ob die Frau gegen ihren Willen zu dieser scheinbaren Leidenschaft gezwungen wurde. Oder war das ganze etwa nur ein außergewöhnliches erotisches Spiel? Du beschließt, die den Rest des Videos am nächsten Tag noch einmal anzusehen und es dann entweder deinem Partner zu zeigen, in der Hoffnung ihn damit anzumachen und euer eigenes Liebesspiel damit anzuheizen. Oder aber du wirst die Kassette der Polizei geben, damit sie den Fall untersuchen können.
Am nächsten Morgen bist du alleine im Haus und schaust dir die Kassette noch einmal an. Die Frau scheint Widerstand zu leisten, aber es ist schwer zu sagen. Plötzlich streckt sie ihren Rücken durch und sie beginnt heftig zu stöhnen. Sie beginnt den Rücken des Mannes zu zerkratzen, ihre Fingernägel dringen tief in seine Haut ein und sie zerkratzt seinen Rücken bis zum Po. Er küsst ihren Hals, ihre Brüste und ihre Brustwarzen – zuerst ganz zart daran knabbernd und dann beißend. Hier hört das Video auf. Wie du auf dieses Video reagierst hängt davon ab, für welches Stadium der Intimität du bereit bist.
Die drei Stadien der Intimität
Wenn du verstehst, in welcher Art von Beziehung du gerade steckst, kannst du auch verstehen, welcher Schritt als nächstes dran kommt. Welcher dieser drei Beziehungsformen kommt deiner jetzigen oder letzten Beziehung am nächsten: Abhängigkeit, 50/50, oder Spirituelle Liebesbeziehung? Jeder dieser drei Stadien beinhaltet eine Wachstumschance, wenn du bereit bist, deine eigenen intimen Beziehungsmuster liebevoll und mit viel Humor anzusehen.
1. Abhängigkeits – Beziehung
“Männer sind Männer und Frauen sind Frauen”
Hat dich das Paar im Video eher an sexuelle Ekstase erinnert oder hattest du das Gefühl, dass die Frau entgegen ihrem Willen gebissen, gedemütigt und vergewaltigt wurde? In einer Abhängigkeitsbeziehung werden Sex und Macht oft schmerzlich miteinander verbunden; Partner verwechseln oft das Verhältnis von Meister/Sklave mit echter Liebe. Sie sind in einem Machtspiel miteinander verstrickt. In einer Abhängigkeitsbeziehung will einer der Partner dominieren und der andere gibt sich selbst dabei auf, um geliebt und akzeptiert zu werden. In einer Abhängigkeitsbeziehung sind Partner aneinander gebunden durch Geld, emotionalen Halt, Kinder oder Sex. Obwohl der Sex in dieser Art von Beziehung meistens gut ist (vor allem in der Zeit der Versöhnung nach einem Streit), fühlen sich die Partner oft eingeengt durch altmodische Rollenverteilung oder einem Ungleichgewicht von finanzieller oder körperlicher Macht. Deshalb versuchen sie in die nächste Beziehungsstufe überzuwechseln. Sie lernen Grenzen zu ziehen und auf sich selbst zu achten und sich nicht immer nach den Wünschen des Partners auszurichten.
2. 50/50 Beziehung
“Sichere Grenzen und gleiche Erwartungen an Mann und Frau.”
Partner in einer 50/50 Beziehung wollen sich sicher fühlen und deshalb macht das Video vielleicht einen bedrohlichen und gewalttätigen Eindruck auf sie. Oberflächlich gesehen, scheinen sie davon völlig abgetörnt zu sein und tun so, als ob jede Form der sexuellen und gewalttätigen Leidenschaft mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen ist. Aber tief im Inneren hat das Video sie vielleicht doch ziemlich angemacht und sie daran erinnert, das in ihrem eigenen Liebesleben etwas fehlt.
Die 50/50 Beziehung ist die “moderne” Beziehungsform in der zwei unabhängige Menschen zusammengefunden haben, um eine harmonische Partnerschaft zu führen. Von jedem der Partner wird erwartet, dass er genauso viel Verantwortung übernimmt wie der andere. Meistens hat jeder sein eigenes Einkommen und sie haben einen Plan erstellt, wie sie die Haushaltskosten miteinander teilen können. Deshalb versuchen sie beide gleichermaßen ihre maskulinen und femininen Eigenschaften zu kultivieren – zu Hause und am Arbeitsplatz.
Allerdings haben viele von uns entdeckt, dass es ein potentielles Problem gibt es bei diesem Ideal einer 50/50 Beziehung . Wir beginnen unsere Lebendigkeit zu verlieren. Sexualität verliert ihre Leidenschaft. Unser inneres Feuer beginnt zu verglühen und wir haben tief im Inneren das Gefühl, das uns etwas fehlt. Wieso? Weil die meisten von uns eine sexuelle Ausprägung haben, die eher männlich oder weiblich ist, als neutral und ausgewogen. Daher kann als Nebenwirkung unseres Bemühens um eine 50/50 Beziehung unser natürlicher, eher männlicher oder weiblicher Wesenskern unterdrückt werden oder verhungern. Für einige von uns, ist diese Form von partnerschaftlicher Ausrichtung absolut ausreichend. Andere beginnen sich in dieser Art von Beziehung unwohl zu fühlen und sehnen sich danach tiefer berührt zu werden in einer leidenschaftlicheren Beziehungsform.
3. Spirituelle Liebesbeziehung
“Ich entspanne mich ins Einssein und verschenke spontan meine tiefsten Gaben.”
Wenn wir über die 50/50 Beziehungen hinausgewachsen sind, haben wir keine Angst mehr davor, uns in der Liebe zu verlieren. Es wird Augenblicke geben, da werden wir bitten und wimmern und dann wieder unseren Partner leidenschaftlich verschlingen. Zu anderen Zeiten wird unsere Liebe friedlich und sanft sein. Aber ganz gleich ob wir schreien, kreischen, bitten, drängen, ziehen, beißen oder umarmen: wir schenken unserem Partner unsere hemmungslose und freie Liebe, die direkt von unserer sexuellen Essenz kommt – ohne Angst oder Zweifel.
Wenn uns die Praxis der Spirituellen Liebesbeziehung geläufiger geworden ist, dann stellt das Video für uns kein Dilemma mehr dar. Dann verstehen wir, dass der grundlegende Unterschied zwischen Vergewaltigung und leidenschaftlicher Raserei ziemlich einfach zu erkennen ist: Liebe.
Ist die Liebe das Motiv jedes Drückens, Zurückziehens und Knabberns, egal ob es kräftig, aggressiv oder leidenschaftlich geschieht? Oder geschieht es aus einem Motiv der Bedürftigkeit – des Strebens nach Sex, Macht oder Kontrolle? Am Allerwichtigsten ist es zu verstehen, dass in einer Spirituellen Liebesbeziehung, Liebe etwas ist, was wir aktiv beeinflussen können und nicht etwas, in was wir hinein- oder herausfallen. Liebe ist etwas, das du trainieren kannst wie Tennis spielen oder Geige – nicht etwas was du entweder fühlst oder nicht. Wenn du darauf wartest, dass du Liebe fühlst bei leidenschaftlichem Sex oder in einer sicheren Unterhaltung, dann machst du einen Fehler. Liebe ist etwas, woran du ganz aktiv beteiligt bist – und wenn du sie praktizierst, dann fühlst du sie. Liebe ist ein aktiver Prozess und lässt sich trainieren.
Deshalb lernen wir in dem Stadium der Spirituellen Liebesbeziehung, wie wir Liebe aktiv beeinflussen können, selbst wenn wir uns verletzt fühlen, zurückgewiesen oder ihr widerstehen. Zunächst praktizieren wir Liebe aktiv und dann beginnt unsere angeborener, sexueller Wesenskern zum Vorschein zu kommen – ganz natürlich, unweigerlich, weil wir lernen aus unserm tiefsten Sein zu schöpfen. Das ist die Wurzel unserer Sexualität.
Auszug aus dem Buch “Intimate Communion” von David Deida /
Übersetzt von Christine Janson